Karl der Große – überinterpretiert und missverstanden

Gestatten: Sachsenschlächter und frommer Christ. Halb-Analphabet und Bildungsreformator. Strenger Vater und maßloser Pimp.
Eine Spätsommernacht. Nach x Gläsern Wein wanke ich von der Ponte gen E-Brunnen durch die leeren Altstadt-Gassen. Das zur Fratze entstellte Konterfei Karls des Gruseligen starrt mich in hundertfacher Ausführung durch die Fenster der Bäckereien an. Sie sind einfach überall: Egal, ob als misslungenes Printenporträt, als humor- und fantasieloser „Karl der Kleine“-Cartoon oder wachend wie der Big Brother auf unzähligen Plakaten in der ganzen Stadt. Es gibt kein Entkommen! Wer zu fliehen versucht, stolpert höchstwahrscheinlich über ein bescheuertes Karlssiegel und verendet auf feinstem Aachener Kopfsteinpflaster mit extra großen Lücken und Kanten. Karl hat sogar seine eigene Armee: Im April standen fünfhundert rote und güldene Mini-Karls in Reih und Glied auf dem Katschhof. Die Installation „Mein Karl“ appellierte schamlos an das urdeutsche Verlangen nach Gartenzwergen, was manch einen sogar zum Diebstahl verleitete. Man muss den hässlichen Zwerg besitzen, ihm huldigen, ihn pflegen, damit er – sobald Gras über die Sache gewachsen ist – im Vorgarten stehen kann, auf dass die Nachbarn vor Neid verrecken!
Wer es jetzt immer noch nicht mitbekommen haben sollte, weil… na ja… vielleicht waren Sie für eine Weile im Weltraum oder durften wegen Ebola-Verdacht nicht aus der Isolierzelle: Es ist Karlsjahr. Und ganz Aachen ist vom „ Kaiser des erneuerten Römischen Reiches“ verzückt. Ganz Aachen? Nein! Diese wunderschöne Stadt ist, einer muss es ja sagen, die Zecke an Karls Arsch. Ohne Carolus Magnus kein Tourismus. Ohne Tourismus keine Knete. Bei dem ganzen Hype um Karl the G wird eines besonders deutlich: Dass Aachen vor über 1200 Jahren mal cool war. The place to be, sozusagen. Niemand hat behauptet, Aachen solle das neue Berlin werden (eines davon reicht völlig, danke). Doch vielleicht ist das Karlsjahr gar nicht mal die schlechteste Gelegenheit, um sich – anstatt wie ein irres Groupie nur noch an sexy Karl und sein Bling Bling zu denken – mit der Stadt Aachen und ihrem kulturellen Leben zu beschäftigen. Bäääh, Kultur! Ein Begriff, der sich, z.B. bei der Karlspreis-Verleihung neben Vokabeln wie „Europa“, „Frieden“, „Werte“ und „Freiheit“ super für Bullshit Bingo eignet. Kultur. Eines dieser vielen Worte, das nur noch als Hülle daliegt, nachdem Politiker es ausgequetscht und totgequatscht haben. Als würde man einen Schmetterling zwischen den Fingern zermatschen, um sich den Kokon in Ruhe anschauen zu können. Doch eine Stadt ohne Kultur ist nun mal ein Friedhof. Tatsächlich hat Karl der Große es sich vor über 1200 Jahren zur Aufgabe gemacht, den kulturellen Niedergang in Europa aufzuhalten. Obwohl oder gerade weil er so spät lesen und schreiben lernte, setzte er sich auch besonders für Bildung ein: Schulen. „Na vielen Dank, du Arsch“, war die Reaktion meines 16-jährigen Ichs auf diese Information im Geschichtsunterricht. Karl den Großen kannte ich zuvor nur von diesen stumpfsinnigen Stadtrallyes, bei denen Grundschulkinder von überforderten Lehrerinnen über den Marktplatz gescheucht werden, um hilflosen Passanten Fragen über das mittelalterliche Aachen entgegenzuschreien. Pflichtbewusst und pädagogisch äußerst gerissen ergänzte mein Geschichtslehrer: „Und nicht zu vergessen, die Wirtschaft! Zum Beispiel…Weinbau!“
Was will uns die Autorin damit sagen? Ganz einfach: Geht doch mal wieder in den Musikbunker oder ins Elysée oder ins Theater und trinkt ein Glas Wein oder eine Flasche Bier für den armen Karl mit, der in diesem Jahr ganz besonders für Stadtmarketing-Schwachsinn herhalten muss. In dem Sinne: Happy Karlsjahr everyone!
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