Eine Insel mit zwei Krisen

Wie die Bewohnerinnen und Bewohner der griechischen Insel Lesbos mit der Wirtschafts- und Flüchtlingskrise umgehen und wer die Situation für sich ausnutzt – in der touristenarmen Urlaubssaison 2016

Piraeus Port (Athen) – Mytilini (Lesbos), 3. September 2016

“Solidarity with immigrants and refugees”, “Against fortress Europe” und “Refugees welcome, Frontext out” steht auf den Mauern verfallener Industriehallen am Hafen Piraeus, zwanzig Minuten von Athen entfernt. Hier läuft man eigentlich nicht herum, sondern wird in einem Shuttlebus bis zur Fähre gebracht. Zwei Kinder, vielleicht sechs Jahre alt, kommen auf mich zugelaufen und versperren mir den Weg. Sie tragen schmutzige, zerfetzte Kleidung und rufen: „Pita! Pita!“ Mit Handzeichen zeigen sie mir, dass sie Geld für Essen haben wollen.

Am Hafen gibt es viele heruntergekommene Gebäude und kleine, sonnenverbrannte Grünflächen, die kaum ein Mensch betritt. Neben Bäumen und Büschen haben sich die hier Festsitzenden kleine Lager aus Decken, Plastiktüten und Wasserkanistern gebaut. Solange sie sich vom normalen Fährbetrieb fernhalten, sind diese Leute allen anderen einfach nur egal. Nirgendwo ist dieses kleine grüne Stück Papier oder Plastik, der EU-Personalausweis, so wertvoll wie an Europas Außengrenzen. Am Hafen von Piraeus umklammere ich dieses Dokument, von dem mein Leben abhängt: Bin ich pleite, kann ich mir einen Job suchen, denn dieses Dokument ist meine Arbeitserlaubnis. Bin ich krank, kann ich mich behandeln lassen und verlaufe ich mich irgendwo, kann ich hiermit zur deutschen Botschaft gehen. Mein Partner studiert in Italien, aber weil er nicht in der EU geboren wurde, hat er in Italien nicht dieselben Rechte wie ich und schon gar nicht während Reisen durch den Schengen-Raum.

Als ich weiter den Hafen entlang spaziere – die nächste Fähre nach Lesbos kommt in neun Stunden – quatscht mich ein Zeuge Jehovas auf Deutsch an. 1972 war er wegen seines Glaubens verfolgt worden und von Griechenland nach Deutschland geflohen. Dort blieb er 13 Jahre lang als sogenannter Gastarbeiter. Inzwischen lebt er wieder in Griechenland, hat einen kleinen Laden und versucht nebenher, Reisenden am Hafen seinen Glauben näherzubringen. Er hat ein sehr negatives Bild von der Zukunft. Mit schwarzen Farben malt er sich folgendes apokalyptisches Szenario aus: „Terroristen wollen an Atomwaffen kommen. Bald wird jeder seinem Nachbarn nur noch Böses wollen.“ Dass man seinen Mitmenschen keinen anderen Glauben aufzwingen soll, weiß er seit den 1970ern nur zu gut, darum zieht er mit seinen Broschüren weiter, anstatt mir weiter vom Weltuntergang zu erzählen.Viele ältere Leute hier sprechen fließend Deutsch, weil sie in Deutschland gearbeitet haben oder noch dort wohnen, aber in den Ferien in ihr Geburtsland Griechenland kommen. Früher waren sie Jahre, Jahrzehnte lang nur zu Gast. Die Vorstellung, ein Staat könne sich einfach Arbeiter ausleihen ohne ihnen eine Heimat zu sein, stellte sich als Unsinn heraus. Menschen leben eben nicht nur an einem Ort, um zu arbeiten. Sie brauchen Freunde, Familie, Kultur am selben Ort. Deutschland sollte diesen Fehler nicht wiederholen, indem Migrantinnen und Geflüchtete als Gäste geduldet werden, solange man ihre Arbeitskraft braucht. Solange Service-Arbeiten wie kassieren oder putzen noch nicht vollautomatisiert erledigt werden können, können auch unqualifizierte Menschen einen Arbeitsplatz finden. Wer das Privileg einer besseren Ausbildung genossen hat, kann als qualifierte Fachkraft herkommen.Ein Mann um die 50 kommt auf mich zu und versucht, mir gefälschte Parfüms und Sonnenbrillen zu verkaufen. Er wird sauer, als ich dankend ablehne.

Morgens um halb sieben erreicht die Fähre den Hafen von Mytilini, Lesbos. Die Freiheitsstatue am schmutzigen Steinstrand blickt in Richtung Türkei. Am Sockel der Statue sitzt eine kleine Gruppe Geflüchteter und beobachtet die anlegende Blue Star Fähre. Ohne EU-Pass oder Personalausweis bekommt man kein Ticket. Die Sonne geht auf; Meer und Steinstrand färben sich für ein paar Minuten rosarot. Der Metallzaun zwischen Strand und Hafen ist verschlossen. Auf dem Boden liegt ein Schild, das auf Englisch und Arabisch darauf hinweist, man solle den Strand nicht zumüllen. Straßenhunde spielen vor einem Schiff der griechischen Küstenwache.

Ioanna, die sich TouristInnen der Einfachheit halber als Jannet vorstellt, lebt seit 21 Jahren auf der Insel. Beim Frühstück erzählt sie von den „Gypsies“, wie sie die Nomaden auf Lesbos nennt, die weder Migranten, noch Geflüchtete sind. „Manche verkaufen Obst, aber die meisten betteln. Die Familien wohnen am liebsten in Trucks und die Kinder gehen nicht zur Schule. In Athen sind die Gypsies modern, aber hier leben sie fast wie im Mittelalter.“ Während sie das erzählt, kommen immer wieder Kinder und mit oder ohne Eltern an unseren Tisch und betteln. Jannet scheucht ein besonders hartnäckiges Kind weg wie eine Katze: „Ksksks!“ Das Kind ruft ihr „Hure!“ zu, während es wegläuft. „Viele Touristen verwechseln die „Gypsies“ mit Flüchtlingen. Wenn jemand sie hier beklaut, kommen sie aus dem Urlaub zurück nach Hause und sagen, die Flüchtlinge seien an allem schuld. Auf der Insel wird die Bettelmafia verachtet und gehasst, weil sie dem Ruf der Geflüchteten, der Roma und Sinti und allgemein der ganzen Gegend schadet.

Die orthodoxen Kirchen auf Lesbos spielen laute Gesänge ab wie man es aus dem Islam kennt. Gerade ältere Menschen hier sind sehr religiös. „Meine Eltern sind auch gläubig. Sie denken übrigens, ich sei noch Jungfrau.“ Jannet lacht. Sie spricht perfekt Englisch, wie viele Griechen, da das Land vom Tourismus abhängig ist. Diese Saison läuft es allerdings nicht gut. „Die Leute hören in den Medien von der Flüchtlingskrise und kommen nicht hierher.“ Dabei braucht Griechenland wegen seiner anderen Krise, der Wirtschaftskrise, gerade jetzt das Geld aus dem Tourismus. Bis auf Fähren und Alkohol ist auf Lesbos alles billiger als in Deutschland. Insbesondere bei Häusern und Löhnen gab es in den letzten Jahren einen enormen Preisverfall. Was in Deutschland knapp für eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einer Großstadt reicht, ist in Griechenland genug für ein ganzes Haus. Der Stundenlohn liegt bei zwei bis sechs Euro; Topgehälter von ÄrztInnen und AnwältInnen liegen zwischen 1500 und 1700 Euro im Monat. Damit befindet man in Deutschland nur knapp über dem Existenzminimum. Weil die Arbeitslosenquote bei 30% liegt und eine eigene Wohnung für junge GriechInnen unbezahlbar geworden ist, wandern sie entweder aus, um in Deutschland in Restaurants zu jobben oder sie wohnen während des Studiums weiterhin bei ihren Eltern. Jannet hat sich für Letzteres entschieden, denn ein Studium in Mytilini ist auf diese Weise bezahlbar: Bücher sind kostenlos und wer früh genug das Masterstudium beginnt, bekommt einen Zuschuss vom Staat. „Das größte Problem hier ist, dass so viele Menschen den Staat und die Flüchtlingskrise ausnutzen. Wer Geld vom Staat bezieht, obwohl er es nicht nötig hat, schadet den vielen Menschen, die es dringend brauchen.“

Griechenland muss nun also zwei Krisen stemmen, die beide aus Habgier resultieren: Erstens gibt es leider tatsächlich genug Arschlöcher, die Sozialsysteme schamlos ausnutzen… und das sind meist nicht die bösen bösen Ausländer, sondern Menschen, die schon lange in Griechenland leben. Zweitens schafft der griechische Staat es nicht, bei den Reichen Steuern einzutreiben. Die humanitäre Hilfe auf Lesbos funktioniert vorne und hinten nicht, weil angeblich das Geld fehlt. Bald ist auch hier das traumhafte Spätersommer-Wetter vorüber und es müssen wieder abertausende Menschen bei Minusgraden in Zelten schlafen. Jannet geht es vergleichsweise gut, denn sie hat das gelobte grüne Plastik, den EU-Personalausweis. Wenn sie in Griechenland auch in Zukunft keine Arbeit findet, wird sie wahrscheinlich auswandern und woanders ein Fotostudio eröffnen oder eine Webdesign-Firma gründen. Doch viele andere Menschen sitzen hier fest. Hinter Gitterzäunen, die sie davon abhalten sollen, die Fähre zum Festland zu erreichen. Nachdem ich beide Gesichter der Insel gesehen habe, das schöne und das schaurige, fahre ich zurück nach Athen. Durchs Fenster sehe ich den Nachthimmel und das düstere Meer… und viele winzigkleine Boote, die der Fähre ganz unscheinbar folgen.

 

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