Hauptsache irgendwas ohne Kapitalismus

„Die beste Art, sich einen Anzug zu leisten, ist zu arbeiten.“
Emmanuel Macron zu französischen Gewerkschaftern

Foto: Claude Truong-Ngoc

Dass mein Termin beim Arbeitsamt für acht Uhr angesetzt ist, halte ich für eine nachträgliche Erziehungsmaßnahme. Dabei habe ich irgendwann im Zeitmagazin gelesen, dass zwei Drittel der Menschen in Deutschland „aufgrund ihres chronobiologischen Schlaf-Wach-Rhythmus am Abend nicht früh einschlafen. […] Die meisten Eulen gehen am liebsten zwischen 23:30 und 2:00 Uhr ins Bett und würden am liebsten morgens zwischen 7:30 und 9:30 Uhr aufstehen.“

„Na, da habense aber ne Marktlücke jefunden, Frau Kampwerth“, lacht die schweinchengesichtige Sachbearbeiterin mit den türkisen Pornoschaufelnägeln aus Acryl. ,,Ne Kneipe in Kölle eröffnen, Sie sind mir ja eine.“

Ich schiebe ihr meinen Lebenslauf durch die Lücke zwischen ihrem Schreibtisch und der dicken Glasscheibe zu, die uns voneinander trennt. Es hat nur zwei stadtbekannte Amokläufe gebraucht, um die Sicherheitsvorkehrungen im hiesigen Jobcenter zu verbessern. Ein Typ war spontan ausgeflippt, der andere hatte vorsorglich eine Axt mit zum Beratungsgespräch gebracht. Mir tun die Täter und Opfer in diesen Fällen gleichermaßen leid, weil sie doch beide nichts dafür können, dass Hartz IV scheiße ist und die meiste Arbeit auch nicht besser.

Jegliche Form von Arbeit, so mein ehemaliger Philosophielehrer, ist vergütete Vergewaltigung. Der arme Herr R. hasste seinen Beruf sehr. Aber irgendwie musste man nach dem Philosophiestudium seine Brötchen verdienen. Darum quälte er mit Vorliebe die Schülerinnen und Schüler, die in der Oberstufe noch so etwas wie Persönlichkeit übrig hatten.

„Ich könnte überall eine Kneipe eröffnen, nicht nur in Köln, Hamburg oder so. Zum Beispiel war ich für mein Nebenfach Politik längere Zeit in Italien. In den Steuerkram kann ich mich einlesen und eine Barkeeperausbildung habe ich.“

„Und wat könnense sonst so?“ Sie blättert schlampig durch meinen Lebenslauf. „Studiert hamse.“

„Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus.“

Sie tut so als hätte sie mich nicht gehört.

Ich wiederhole lauter: „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus! Nebenfächer Rotwein, Hastemalblättchen und Kulturpolitik.“

Sie seufzt lange. Dann stellt sie die Frage, die jeder stellt, wenn es um meinen Bachelor geht:

„Und was macht man damit?“

„Ich habe als Journalistin gearbeitet.“

Gleichzeitig sagen wir: „Bei der Wirtschaftslage.“ In meinem Satz klingt ein bisschen Stolz durch, bei ihr eher die Einsicht, dass wir hier noch eine Weile sitzen werden.

Na los, denke ich, sag ihr schon, was sie hören will:

„Im fünften Semester habe ich ein Jobangebot von einer Werbeagentur bekommen. Ich hätte teure Designermöbel bewerben sollen, schicke Restaurants und irgendwelche neuen Apps. Die Bezahlung war auch nicht schlecht.“

„UND DA HABENSE UFFJEHÖRT?!“, jammert die Beamtin in Teilzeit und schlägt die türkiskralligen Hände über dem Kopf zusammen. Mein Lebenslauf flattert zu Boden.

„Das Ganze wäre unter dem Deckmantel Journalismus gelaufen. Sponsored Content, product placement, influencing und so. Ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“

„Jewissen!“, jault sie auf. Idealistenpack versaute ihr zwei- bis dreimal am Tag die ersehnte Zigarettenpause. „Und was wollense nun machen, wenn nich Werbung?“

Ich denke kurz nach. Irgendwas, dass Sinn ergibt, irgendwas von Bedeutung, irgendwas… „Irgendwas ohne Kapitalismus“, sage ich schließlich.

Sie steht wortlos auf, schlägt ihren Kopf gegen die Glasscheibe, TONK, TONK, TONK. Dann setzt sie sich wieder und starrt mich schweigend an. Ihre zusammengekniffenen Augen sind jetzt winzigklein und die trockene Wimperntusche krümelt über ihr Gesicht, bis zur Nase, die wie ein Staubsauger den Schminkdreck schniefend einatmet und mit jedem genervten Seufzer wieder aus. Schließlich scheint sie eine Idee zu haben: „Se wollen inne Sozialbereich? Mit de Flüchtlinge und so? Könnense dene Deutsch beibringe.“

„Nicht nur denen.“

Erleichtert ruft sie: „Achtfuffzig die Stunde, aber ersma drei Monadde Pflichtprattikum! Den Personalussweis, bidde!“ Sie hackt ein paar Daten in den Computer, die sie falsch aus meinem Perso abschreibt, druckt den Wisch aus und reicht ihn mir.

„Haben Sie auch Arbeitsplätze, von denen man leben kann?“

„Was Sie alles woll‘n!“, lacht die Frau und gibt meinen Ausweis zurück. „Schönen Tach noch!“

Ich packe meine Sachen, stehe auf, habe meine Hand schon an der Türklinke, da drehe mich aber noch einmal zu ihr um, verfinstere meinen Blick und sage: „Sie werden schon sehen. In ein paar Jahren ist die Automatisierung der Arbeit so weit, dass Ihre Stelle komplett durch die ArbeitsagenturApp ersetzt wird. Dann werden Sie sich wünschen, Sie hätten irgendeine künstlerische Begabung, mit der Sie Ihre Zeit füllen können. Sie werden abstürzen und den Horror vacui erleben, von dem Nietzsche einst schrieb.“

„Wer?“

Wütend knalle ich die Tür hinter mir zu.

Im Wartebereich sitzt ein Besoffener mit Aldidas-Trainingsanzug über dem Bierbauch, Tränen in den Augen und Axt in der Lidl-Einkaufstasche. Ich nicke ihm freundlich zu.

Sollte dieser oder ein ein anderer Text auf der Website Ihre Gefühle verletzt haben, wenden Sie sich bitte an meinen Anwalt: anwalt_mk@spam.de

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