Wegen der chaotischen Zustände an der Sapienza Universität in Rom, meines Brotjobs am Flughafen und des Asylpapierkrams für einen guten Freund habe ich wenig Zeit gehabt, zu schreiben oder meinen Studienaufenthalt in Hamburg zu genießen. Bis jetzt. Die Universität Hamburg ermöglicht es ihren Erstsemester-Studierenden und neu angekommenen Gaststudierenden, drei Monate lang Freikarten für unzählige Kulturveranstaltungen zu erhalten. Vor allem für die Studierenden, die von Niedriglohn und Bafög leben, ist das Freikarten-Projekt ein Segen. Seit ich meine Arbeitsstunden gedrosselt habe, kann ich die meisten meiner Vorlesungen besuchen und danach noch ausgehen. In Hamburg gibt es so viele Bühnen, dass ich mich erst einmal mit Markierungen durch die Spielpläne arbeiten musste wie durch meine Uni-Lektüre.

Als David Bowie-Fan wollte ich mir auf keinen Fall die Voraufführung von „Lazarus“ entgehen lassen, eine Probe kurz vor der eigentlichen Premiere. „Lazarus“ von David Bowie und Enda Walsh wurde 2015 in New York uraufgeführt. Seit dem 16. November 2018 wird das Stück im Deutschen Schauspielhaus gezeigt. Das Theater sieht nicht nur wunderschön aus, sondern hat auch einen starken Charakter: 1900 eröffnet von und für Hamburgs BürgerInnen, wurde es 1934 von den Nazis zuerst verstaatlicht, dann verschandelt, zwei Jahre später geschlossen. 1945 ließen die britsichen Besatzer wieder Aufführungen zu. Es ist eines der wenigen Hamburger Theater, die im Zweiten Weltkrieg vor der Zerstörung bewahrt werden konnten. Seit den 1970ern wagen sich die IntendantInnen auch an avangardistische und experimentelle Stoffe, statt immer nur die Klassiker zu inszenieren.
„Lazarus“ ist mehr ein Musical als ein Theaterstück, denn David Bowies Musik spielt eine viel größere Rolle als die Dialoge der Figuren. Bowie und Walsh erzählen die Geschichte aus Walter Tevis‘ „The Man who fell to Earth“ weiter. Wie AutorInnen es immer nennen, sobald ihre Geschichte keinen Sinn mehr ergibt, taumelt die Hauptfigur zwischen „Wahn und Wirklichkeit“, „Realität und Rausch“, et cetera. Solche Formulierungen erlauben es den RegisseurInnen natürlich, den Stoff noch experimenteller, anstrengender und willkürlicher umzusetzen. Tatsächlich kann man gerade in fast allen Hamburger Theatern irgeneiner Hauptfigur beim Überschnappen und Halluzinieren zusehen. Die deutsche Version von „Lazarus“ ist ein bisschen so, als führe man die Rocky Horror Show ohne Skript und ohne Publikumsbeteiligung auf. Gegen die experimentellen Stücke habe ich im Prinzip nichts, denn am Ende des Tages ist es ja ein Spiel und nicht der bittere Ernst einer Gedichtanalyse in der Deutschklausur. Vor allem die Dialoge zwischen Emmy und ihrem spießigen Ehemann brachten viele zum Lachen, wahrscheinlich, weil man das Hin und Her zwischen Bequemlichkeit und Freiheitsdrang aus der eigenen Beziehung kennt. Ich fand es besonders süß, als der Hauptdarsteller Alexander Scheer ganz kurz aus seiner Rolle heraus musste: „Text!“, rief er und fügte entschuldigend hinzu, dies sei ja eine Probe. Ich mag Proben ab jetzt lieber als Premieren.

Ganz schlimm und absolut nicht zu empfehlen war dagegen „Die tote Stadt“ in der Staatsoper. Erstens war das Stück faul inszeniert mit viel Geld, wenigen Ideen und pubertären Sexwitzchen, um die Zielgruppe – Ü80, höhere Mittelschicht – zu schockieren. Zweitens ist die Hamburger Staatsoper im Vergleich zu dem, was ich in Italien gesehen habe, eine Beleidigung der Sinne. Sehr deutsche, praktisch orientierte Architektur, viel Weiß und LEDs – ich habe Arztpraxen in besserem Design gesehen als diese vermeintliche Staatsoper. Man sollte die wirklich gut inszenierten Opern einfach in die Elbphilharmonie schleppen und dort aufführen.

Kinofilme kann man sich günstig im Audimax auf dem Unicampus anschauen oder gleich neben dem Campus im Abaton. Warum so viele Studierende in der Pony Bar neben dem Abaton abhängen, verstehe ich allerdings nicht, denn die Drinks sind gar nicht mal so geil, bloß teuer. Jedenfalls wurde ich trotz des Angebots an Horrorfilmen und politischen Dokus in Bohemian Rapsody geschleift. Hauptdarsteller Rami Malek sieht Freddie Mercury zwar nicht wirklich ähnlich, aber ich liebe ihn für Mr. Robot. Das Abaton ist ein eher kleines und gemütliches Kino, nicht wie diese gläsernen Cineplex-Klötze. In diesen Cineplex-Kettenkinos kann man sich ja Fifty Shades of Irgendwas angucken oder schon wieder einen Harry Potter Spin-off-Prequel-Scheiß.
Im Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G) haben mein Mann und ich uns mehrere Ausstellungen angeschaut. Von Otto Waalkes‘ Ottifanten über Samurai-Helme bis Klaviere aus dem 18. Jahrhundert – im MK&G gibt es all das und mehr. Aus „68 – Pop und Protest“ musste man mich verscheuchen, weil ich sonst einfach dort eingezogen wäre. Unter anderem werden Rudi Dutschkes Kapital-Ausgabe und Möbel im Space Age Design ausgestellt. Ich möchte dort bitte sofort wohnen. Darüber hinaus verdanke ich dem MK&G meine (längst überfällige) Bekanntschaft mit den Liedern der Band Cream sowie neuem Lesefutter über den modernen Iran der 1960er. Anleitungen zu revolutionärem Handeln gibt es auch. Aber ich misstraue deutschen Bildungsbürgern, die behaupten, sie verstünden etwas von Revolution.
Als nächstes stehen Schreibabende in verschiedenen Bibliotheken, dem kleinen und dem großen Planetarium und eine neue „Frankenstein“-Inszenierung im Thalia Theater an. Wer jetzt noch nicht weiß, was man in Hamburg als GaststudentIn oder Ersti unternehmen kann, dem oder der lege ich Drogenkonsum auf Raves, Vorträge in der Roten Flora sowie Schiffsfahrten zum Elbstrand ans Herz. Die sind im Semesterticket enthalten, also die Schiffsfahrten, nicht die Raves.